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Nicht jeder Morgen ist ein Kaffee-Morgen

Ein Gastbeitrag über Unterstützte Kommunikation (UK) in der TaFö von Tim-Robin Kasper und Aphrodite Baumgärtner

Viele Menschen vermissten während der letzten anderthalb Jahre vor allem eines: Urlaub machen. Reisen. Fremde Länder besuchen. Dorthin, wo es anders riecht, wo es anders schmeckt, wo die Sonne vielleicht ein bisschen öfters und kräftiger scheint als bei uns im eigenen Land.

Und auch dorthin, wo oftmals eine andere Sprache gesprochen wird und man sich dann häufig mittels der Weltsprache Englisch oder notfalls auch mal mit Händen und Füßen verständigt. Irgendwie geht es immer, wenn auch manchmal beschwerlich und mit Missverständnissen. Es gehört einfach zum Urlaub in fernen Ländern dazu, nicht richtig verstanden zu werden.

Doch wie ist es, wenn man in seiner eigenen Heimat, da, wo man lebt, von Menschen, die einem nahe stehen kaum oder nicht richtig verstanden wird? Wie ist es, wenn man seine wichtigsten Bedürfnisse nach Essen und Trinken nicht kommunizieren kann? Wenn man Schmerzen hat und nicht in der Lage ist, andere Leute schnell und gezielt darauf aufmerksam zu machen?  Dann wird aus Kommunikation eine alltägliche Herausforderung von großem Ausmaß.

Welche Rolle spielt die Kommunikation bei der Betreuung und Förderung von Menschen mit Schwerstmehrfach-Behinderungen?

„Dieser Herausforderung mit viel Professionalität, Elan und Ehrgeiz entgegen zu treten und daraus eine Tugend zu machen ist eine der Kernaufgaben in unserer täglichen Arbeit“ sagt Tim-Robin Kasper, der seit zwei Jahren die Tagesförderstätte im Lebenshilfewerk Pinneberg leitet.

Rund 27 Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderungen, die (noch) nicht in der Lage sind, in der angrenzenden Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu arbeiten, erhalten hier von ihm und seinem 12-köpfigen Mitarbeiterteam ein tagesstrukturierendes Förderangebot und werden in ihrer Alltagsbewältigung unterstützt. 

Morgens um 7.30 Uhr, wenn sich die Tagesförderstätte füllt, wird erstmal gemeinsam gefrühstückt und der Tag geplant, der um 15.30 Uhr endet.

„Abwechslungsreich und bunt“ ist hier das Credo: Von Ausflügen, Spaziergängen, kreativen und musikalischen Angeboten sowie Sport- und Therapieangeboten wie Reiten und Schwimmen ist alles dabei, was die hier betreuten Menschen in ihrer Entwicklung und zur möglichst eigenständigen Bewältigung ihres Lebens voran bringt und ihnen Freude bereitet.

Die größte Aufgabe des Tages ist es hierbei für alle Beteiligten, sich gegenseitig zu verstehen. Denn der überwiegende Teil der betreuten Menschen kann nicht sprechen, nicht lesen, nicht schreiben. „Es liegt an uns, tagtäglich eine gemeinsame Ebene zu finden – eine gemeinsame Sprache zu sprechen auf der wir uns mit den Betreuten austauschen können, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu erfahren und all das, was sie uns sonst noch gerne mitteilen möchten,“ sagt Kasper.

Leider ist es in unserer heutigen Gesellschaft oft noch gang und gebe, Menschen die sich nicht äußern können, in gewisser Weiße zu ignorieren  oder möglicherweise  zu bevormunden, indem man ihnen Entscheidungen abnimmt.

Beispielsweise bei der Frage, was sie morgens Essen oder Trinken möchten. Moralisch begründet wird das dann oftmals mit der Aussage, dass man die Leute und ihre Bedürfnisse und Interessen ja sowieso kennt.

Unterstützte Kommunikation als strategisches Ziel in der Tagesförderstätte

Doch Bedürfnisse und Interessen sind immer verschieden und ändern sich auch im Laufe des Lebens. Innerhalb des Kollegiums wurde daher eine Arbeitsgemeinschaft gegründet, um Menschen, die keine oder nur eine unzureichende Lautsprache sprechen mit verschiedensten Angeboten und Hilfsmitteln eine adäquate Kommunikation zu ermöglichen.

Dabei wird das Konzept der Unterstützten Kommunikation (kurz: UK) in allen Bereichen gelebt. UK ist dabei so vielfältig wie ein großer bunter Frühlingsstrauß. Diese praktisch anwendbare Arbeitsmethode öffnet ganz neue Räume der Kommunikation Es gibt unzählige Möglichkeiten und Instrumente, um eine bessere Kommunikation  zu ermöglichen.

Zuerst wird gemeinsam im Team der Analysebogen von Irene Leber erarbeitet. Dort wird neben den Fähigkeiten der einzelnen Personen auch der Entwicklungsstand des Klienten ermittelt. Wichtig ist, dass sich dort nur an den Fähigkeiten des einzelnen Menschen orientiert wird. Somit entsteht gleich eine positive Einstellung. Aus der der Einschätzung ergeben sich förderdiagnostische Fragen und anschließend wird die Form der Unterstützungsmöglichkeit gewählt, die sich an dem individuellen Entwicklungsstand und der physischenGesundheit orientiert.

Als Arbeitsmaterialien werden dann z.B.  Symbolkarten, Fotos, Gebärden, Gesten und Interaktions-Instrumente, die zur ersten Anbahnung eingesetzt werden, verwendet. Auch sensomotorische Körpererfahrungen und die Basale Stimulation können erfolgreich die ersten Kommunikationsformen darstellen.

Dabei sollte der Spaßfaktor immer an erster Stelle stehen. Denn kein Mensch lernt gern unangenehme Dinge. Die Kommunikation sollte für den Lernenden ein Gewinn an Spaß und Freude bedeuten und das Lernen vorerst noch unbedeutend sein. Die Arbeitsgemeinschaft Unterstützte Kommunikation trifft sich im zweiwöchigen Rhythmus, um sich auszutauschen und gemeinsam neue Impulse zu setzen. Aphrodite Baumgärtner ist Fachkraft in der Tagesförderstätte und speziell ausgebildete Fachkraft in Unterstützter Kommunikation. Unter ihrer Federführung werden Arbeitsmethoden für die praktische und theoretische Anwendung im kommunikativen Alltag erlernt, ausprobiert, diskutiert und später im Team regelmäßig evaluiert: Wo muss nachgebessert werden, was muss angepasst werden, damit wir uns gegenseitig besser verstehen und unsere Klienten mehr profitieren können.

Symbole als gemeinsame Sprache, um sich gegenseitig zu verstehen

Doch wie sieht die Umsetzung dann in der Praxis aus? Ein kurzes Beispiel aus der morgendlichen Frühstückssituation der Tagesförderstätte macht das gut deutlich. Herr S.,  ein Klient mit einem erhöhtem Assistenzbedarf, spricht keine Lautsprache spricht. Er sitzt morgens am  Frühstückstisch. UK-Fachkraft Aphrodite Baumgärtner setzt sich  zu ihm und legt  ihm zwei Din-A4 -große  laminierte Symbolkarten (Metacom) auf den Tisch. Auf der einen Karte ist ein Glasbecher mit einem Milchkaffe abgebildet, auf der andern ein Becher mit heißem Wasser und eine Flasche Wasser.

Der Blick von Herr S. wechselt mehrere Male von Frau Baumgärtner zu den beiden Metcomsymbol Karten. Er wird mehrmals mit freundlich gefragt,  ob er einen Kaffee oder einen Tee trinken möchte.  Dabei tippt die Fachkraft die jeweilige Symbolkarte mit dem Finger an und begleitet dies durch Lautsprache .

Nach einiger Zeit legt Herr S. seine Hand auf das Metacom-Symbol, das die Flasche Wasser abbildet und blickt Frau Baumgärtner erwartungsvoll an. Sie nimmt seine Entscheidung freundlich zur Kenntnis, und stellt ihm den gewünschten Tee bereit. Noch vor einigen Monaten hatte man Herr S. morgens immer einen Kaffee hingestellt. Jetzt, wo er die Wahl hat und diese Wahl auch ausdrücken kann, entscheidet er sich oft anders. Manchmal möchte man auch einfach ein Glas Wasser trinken um sich zu erfrischen, gerade jetzt im Sommer. Nicht jeder Morgen ist ein Kaffee-Morgen…

Im gesamten Team haben wir die Erfahrung machen dürfen, dass wenn wir es schaffen, den zu betreuenden Menschen eine Möglichkeit der Kommunikation zu ermöglichen, in dem sie Wünsche, Vorlieben und Bedürfnisse, selbstbestimmt mitteilen können. Unser Ziel ist es, unseren Menschen mit erhöhtem Assistenzbedarf  ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und sie selbständig Entscheidungen treffen zu lassen. Das ist für uns die größte Motivation weiter zu machen und noch mehr Möglichkeiten der Kommunikation zu schaffen. Jene Möglichkeiten gibt es in Hülle und Fülle.

Neben den oben erwähnten Metacom-Karten gibt es auch Tablet-Computer, die ebenfalls mit Metacom-Symbolen ausgestattet sind. Für Menschen mit körperlichen Einschränkungen gibt es eine Vielfalt von Ansteuerungsmöglichkeiten wie zu Beispiel bewegliche Vorrichtungen aus Metallgestänge oder den Infrarot-Laser, der als Ansteuerungsmöglichkeit durch Blickkontakt oder durch das Kinn ausgelöst werden kann. Einfache technische Hilfsmittel wie zum Beispiel der Powerlink, bei dem nur eine Taste gedrückt werden muss und der Mensch mit Behinderung, kann selbständige das Licht an und aus schalten, die Kaffeemaschine betätigen und vieles mehr!

„Man muss nur einiges ausprobieren und dabei den Menschen immer wieder  beobachten,“ meint Baumgärtner und ergänzt: „Ein Kleinkind hört Wörter mehrere 10.000 mal, bevor es die Bedeutung versteht und es schlussendlich selbst zur Kommunikation einsetzen kann.  Einem Baby wird stets freundlich und überall mit Sprache begegnet, ohne dass wir eine Erwartungshaltung haben.“ Genau so sollten wir den Menschen begegnen, denen wir Unterstützte Kommunikation nahe bringen wollen. Mehr und besser verstehen ist eines der Leitziele der Tagesförderstätte. Über den spannenden Einsatz neuer Hilfsmittel und die Resultate werden wir in naher Zukunft sicherlich noch einiges zu berichten haben.

Tim-Robin Kasper 
Leitung Tagesförderstätte Rellinger Straße 55 
25421 Pinneberg Telefon: +49 4101 5406 342 
Fax: +49 4101 54 06 300 
E-Mail: tim-robin.kasper@lebenshilfe-pi.de