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Wie ein Heimflug, sagt Sarah

Theorie ist das eine, praktisches Erleben das andere. Sarah Riehle weiß, wovon sie schreibt. Die 36-jährige lebt in Wedel und arbeitet als Übersetzerin und Lektorin. Ihre Fachgebiete sind Neurologie und inklusive Kommunikation, die Arbeitssprachen Englisch und Deutsch. Wir haben uns kennengelernt, als sie über Mehr miteinander! eine Begleitung fürs Schwimmen suchte. Seither stehen wir in Kontakt. Sarah nutzt aufgrund einer durch Sauerstoffmangel bei der Geburt verursachten Cerebralparese überwiegend einen Rollstuhl. Die hindert sie nicht daran, ihr Leben aktiv zu gestalten. An guten Tagen gerne ein paar Meter laufend. Sie musste nicht lange überlegen, ob sie regelmäßig für die Teilhabe-Info schreiben möchte. Klar wollte sie. Diesmal hat sie Büchertipps für uns:

„Wieder nichts, wie so oft. Frustriert lenke ich meinen Rollstuhl durch die Regalreihen der Stadtbücherei Wedel. Hätte ich mir denken…. He, Moment, die sieht ja aus wie ich, die da auf dem Titel! Okay, nicht ganz. Lotte ist blond und hat grüne Augen, aber sonst? „Lese-Muss!!!“, sendet mein Gehirn. Wenig später schließen sich meine Finger um den Rücken von „Lauthalsleben“. Meine rechte Hand zieht das Buch mühsam aus dem Regal. Was dann folgt, gleicht einem sprichwörtlichen Heimflug. Ich kann es kaum abwarten, mit dem Lesen anzufangen. „Von Lotte, dem Anderssein und meiner Suche nach einer gemeinsamen Welt“. Kaffeemaschine an, Becher raus, und los geht es.

Buchautorin Julia Latscha ist die Mutter von Lotte. Die Geschichte beginnt mit einer (mir sehr vertrauten!) Situation: kaputter Fahrstuhl und empathiefreie Mitarbeiter eines öffentlichen Verkehrsbetriebs. Der Bogen spannt sich von Lottes schwerem Start ins Leben über den Alltag ihrer Kindergartenzeit und Einschulung bis hin zum vorläufigen Schulende. Dabei erzählt Mama Julia so warmherzig und authentisch von Lotte und ihrem Bruder Kasimir, von sich selbst und Sebastian, dem Vater der beiden, dass ich in Gedanken beinahe alles mit einem Haken versehen möchte. Kenne ich.

Oft möchte ich ins Buch springen und „Ich verstehe euch so gut!“ rufen. Oder um Lotte fest zu umarmen und ihr ein „Du schaffst das!“ dazulassen. Immer dann, wenn in mir große Wellen Wut und Verzweiflung im Herzen schwappen. Angesichts von Bürokratie-Irrsinn. Angesichts von Menschen, die vor lauter spastisch-athetotisch infantiler Cerebralparese übersehen, dass sie ein tolles junges Mädchen vor sich haben. Angesichts der Barrieren in Lottes eigenem Kopf. Kenne ich nämlich. Und dann, ja – dann sind da noch die anderen. Die, die Lotte Flügel (ver)leihen, um diese Barrieren zu überwinden. Lest selbst, wie das geschieht. Lasst euch auf eine Reise entführen, die ihresgleichen sucht…

Noch einen anderen Buchtipp habe ich, allerdings auf Englisch: In “Too sticky!“ erzählt Jen Malia auf liebevoll-lustige und zugleich respektvolle Art von ihrer Tochter Holly. Die ist verrückt nach Naturwissenschaften und Experimenten. Als Kind mit Autismus schaudert Holly aber auch vor Ekel, sobald ihr Körper etwas Klebriges wie Schleim berührt. Wer das Buch liest, erlebt Hollys Welt, ihre Herausforderungen und wie das mutige Mädchen sie dank der liebevollen Unterstützung ihrer Familie und ihrer Freunde überwindet. Unbedingt lesenswert! Allein schon, um die soziale Inklusion von Kindern und Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) weltweit zu verbessern.“

Julia Latscha: „Lauthalsleben“
ISBN: 978-3-426-44240-1 ©2017 Knaur eBook ©2017 Knaur Verlag

Jen Malia: “Too sticky!“ (Originalsprache Englisch)
Albert Whitman & Co. ISBN: 978-0-8075-8026-4

Im Lebenshilfe-Treffpunkt haben wir Bücher und Fachliteratur zum Ausleihen. Hier der Link zu unserer (unvollständigen) Liste. Anregung: Bücher rund um das Leben mit Behinderung spenden, die ihr nicht mehr benötigt. Jemand anderes freut sich sicher darüber. Teilen – für Mehr miteinander!